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Beispiele aus der klinischen Praxis

Dipl.Psych. Gesine Sturm, Universität Bremen, Bremer Institut für Kulturforschung und Universität Paris XIII.Ethnopsychoanalytische Psychotherapie in Frankreich

Aktuelle Entwicklungen in der ethnopsychoanalytisch orientierten Psychotherapie in Frankreich: Der ethnopsychiatrische Therapieansatz von Marie Rose Moro.
Gesine Sturmerschienen in: Ethnopsychoanalyse Band 6 Forschen, erzählen und reflektieren.eds J. Sippel-Süsse, R. Apsel, Brandes & Apsel, pp. 218-238'mit freundlicher Genehmigung des Brandes & Apsel Verlages'

In Frankreich ist die Entwicklung der Ethnopsychoanalyse durch die Arbeiten von Georges Devereux geprägt worden. Dabei wurden nicht allein dessen erkenntnistheoretische Schriften wie "Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften" (Devereux 1973) rezipiert, sondern es entstand ein ebenso großes Interesse an seinen Beiträgen zur transkulturellen Psychotherapie (Devereux 1974; Devereux 1985).

Tobie Nathan, einstmals Schüler von Devereux an der École des Hautes Études de Sciences Sociales, versuchte die komplementaristische Methode (Devereux 1978) für die Psychotherapie nutzbar zu machen. Devereux hatte vorgeschlagen, bei der Erforschung menschlichen Verhaltens verschiedene Blickwinkel auf diesen komplexen Forschungsgegenstand gegenüberzustellen, wobei es in seinen Beispielen um eine Konfrontation psychoanalytischer und anthropologischer Betrachtungsweisen ging. Nathan übertrug nun diese Idee auf die Psychotherapie und versuchte, in die Therapie neben der "psychologischen Ebene" eine "kulturelle Ebene" einzuführen, auf der die kulturellen Bezugspunkte der PatientInnen thematisiert werden sollten (Nathan 1986).

Ganz wie Devereux dies für die komplementaristische Methode in der Forschung vorgeschlagen hatte, sollte auch in der Therapiepraxis keine Vermischung der Ebenen zugelassen werden. Wenn die PatientInnen Bezug auf kulturspezifische Vorstellungen nehmen, sollten diese Äußerungen nicht psychologisch interpretiert werden, sondern vielmehr als eine Festlegung von Rahmenannahmen angesehen werden, die für das Erleben der PatientInnen von Bedeutung sind. Um die Arbeit auf der "kulturellen Ebene" zu erleichtern, begann Nathan in den 80er Jahren, in der Therapie von MigrantInnen mit Neuerungen des psychotherapeutischen Settings zu experimentieren. Er baute eine multikulturelle TherapeutInnengruppe auf und bezog grundsätzlich eine ÜbersetzerIn in die Arbeit ein, die die Muttersprache der PatientInnen sprach. Mit der Zeit legte Nathan einen zunehmend größeren Akzent auf die "kulturelle Ebene" in der Psychotherapie. Er begann, sich für "traditionelle Heilverfahren" zu interessieren und versuchte, einige Aspekte dieser Verfahren auf die Psychotherapie zu übertragen. So führte er z.B. Interventionsformen in die Therapie ein, die an Wahrsagerei erinnerten, und er experimentierte mit dem Gebrauch von Objekten in der Therapie (Nathan 1994).

Durch die oftmals recht provokativ formulierten Arbeiten von Nathan wurde in Frankreich eine Debatte ausgelöst, in der es vor allem um die Frage ging, inwieweit in der Psychotherapie von MigrantInnen ein Rückgriff auf Vorstellungen aus ihrer Herkunftskultur notwendig sei. Auf der einen Seite stand dabei die von Nathan und manchen seiner Mitstreiter zunehmend radikaler formulierte Annahme, daß ein Verständnis dieser PatientInnen nur unter Rückgriff auf ihren kulturellen Hintergrund zu erlangen sei (Nathan 1997). Auf der anderen Seite wurde Nathan von einigen Autoren vorgeworfen, er reduziere die Subjektivität der PatientInnen auf unterstellte kulturelle Normen (Rechtman 1995) . Manche Autoren beschuldigten Nathan eines kulturalistischen Rassismus, der letztendlich einer Ausgrenzung der MigrantInnen aus der französischen Gesellschaft zuspiele (Fassin 2000).

Etwas abseits vom Lärm dieser hitzigen Debatten wurde an verschiedenen Orten (Bordeaux, Marseille, Paris,… ) von unterschiedlichen psychotherapeutischen Teams versucht, die transkulturelle Psychotherapiepraxis weiterzuentwickeln. Dabei wurden vielfach Ideen von Devereux und von Nathan aufgegriffen, die teils uminterpretiert und teils mit neuen Ideen vermischt wurden. Einer dieser Orte ist die Kinder- und Jugendambulanz des Krankenhauses Avicenne , in der Nathan Mitte der 80er Jahre seine ersten Gruppentherapien mit MigrantInnen durchgeführt hatte. Nach Nathans Wechsel an die Universität Paris VIII und das von ihm dort gegründete "Centre Georges Devereux" wurden die ethnopsychiatrischen Therapiesitzungen am Krankenhaus Avicenne von der Psychiaterin und Psychoanalytikerin Marie Rose Moro weitergeführt. Mittlerweile haben Moro und ihre MitarbeiterInnen eines der aktivsten Zentren der Forschung und Praxis im Bereich der transkulturellen Psychiatrie in Frankreich aufgebaut. Moro ist Gründerin der "Association Internationale d'Ethnopsychanalyse" (AIEP) und gibt eine Zeitschrift zur transkulturellen Psychiatrie heraus.

In den Veröffentlichungen von Moro nehmen die psychologischen Probleme der "zweiten Generation" (Moro 1998, siehe auch Moro 1999) und die transkulturelle Eltern-Kind-Therapie eine wichtige Rolle ein (Moro 1994) . In ihrer aktuellen Arbeit greift Moro eine Reihe der Ideen und technischen Neuerungen von Nathan auf, vertritt aber gleichzeitig einen Ansatz, der sich sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen Ebene deutlich von demjenigen Nathans unterscheidet. Sie versucht, die Einbindung der MigrantInnen in kulturelle Zusammenhänge jenseits des Gastlands aufzugreifen, ohne dabei ihr Erleben auf einen unterstellten kulturellen Hintergrund zu reduzieren. Die Ausbildung von Verbindungen zwischen den unterschiedlichen kulturellen Bezügen der PatientInnen steht bei dieser Arbeit im Zentrum. Bevor ich hier den Ansatz von Moro anhand eines Fallbeispiels vorstelle, möchte ich kurz auf einige zentrale Aspekte ihrer theoretischen Arbeit eingehen und das Setting ihrer ethnopsychiatrischen Gruppentherapien vorstellen.

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Die Dezentrierung

Moro unterstreicht die hohen Ansprüche, die eine transkulturelle Psychotherapie an die PsychotherapeutIn stellt. Die TherapeutIn muß in der Lage sein, fremde Denk- und Empfindungsweisen nachzuvollziehen, ohne dabei in Versuchung zu geraten, das Fremde, dem sie begegnet, vorschnell auf Bekanntes zurückzuführen. Sie muß versuchen, sich von den Normalitätsvorstellungen der eigenen Kultur zu distanzieren und das Fremde aus seinem kulturellen und sozialen Kontext heraus verstehen. Diesen Prozeß, der sich sowohl auf intellektueller als auch auf emotionaler Ebene abspielt, bezeichnet Moro als "Dezentrierung".

Moro schlägt vor, Situationen zu schaffen, in denen TherapeutInnen mit Denkweisen aus anderen Kulturen konfrontiert werden, so daß sie ihre Fähigkeit zur Dezentrierung einüben können. Die Arbeit im multikulturellen Team, die in den ethnopsychiatrischen Gruppentherapien eingesetzt wird, stellt eine der Möglichkeiten dar, sich einer solchen Konfrontation zu stellen. Nach jeder Therapiesitzung wird ein Austausch über die Therapiestunde vorgenommen, in dem auch die kulturell geprägten Aspekte der Gegenübertragung der Team-Mitglieder diskutiert werden. Auch eine Supervision bei einer Person, die in der transkulturellen Arbeit erfahren ist, kann helfen, die Fähigkeit zur Dezentrierung zu entwickeln.

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Psychische Universalität und kulturelle Kodierung

Moro geht davon aus, daß die Grundstruktur der menschlichen Psyche universell ist. Diesen Standpunkt nimmt sie unter anderem ein, um sich von einer radikal kulturrelavistischen Position zu distanzieren, aus der heraus eine Verständigung und Begegnung über kulturelle Grenzen hinaus kaum denkbar wäre. Gleichzeitig geht Moro jedoch davon aus, daß die universelle Grundstruktur, die Menschen interkulturelle Begegnungen und interkulturelles Verstehen ermöglicht, nicht ohne weiteres zugänglich ist. Die von allen Menschen geteilten psychischen Mechanismen sind Moro zufolge nicht als gegeben vorauszusetzen, sondern sie sind zu entdecken. Daher muß in einer therapeutischen Begegnung zunächst versucht werden, die spezifischen kulturellen Kontexte zu verstehen, die für eine PatientIn von Bedeutung sind. Erst über das Verständnis der spezifischen Denkweisen, Normalitätsvorstellungen und Handlungsschemata, auf die sich die PatientIn bezieht, wird ein Zugang zu ihren innerpsychischen Prozessen möglich. Moros Standpunkt ist also nicht mit der Behauptung zu verwechseln, daß die Erkenntnisse der westlichen Psychologie ohne weiteres auf alle Menschen übertragbar seien. Sie fordert vielmehr, den subjektiven Standpunkt der PatientInnen in seiner ganzen Tiefe ernstzunehmen, und dabei auch die spezifischen sozialen und kulturellen Kontexte zu berücksichtigen, in die die PatientInnen eingebunden sind.

In der Therapie von MigrantInnen wird diese Aufgabe zu einer Herausforderung, da diese PatientInnen über äußerst komplexe kulturelle Bezugspunkte verfügen. Um dieser Komplexität gerecht zu werden, wird in Moros Therapieansatz parallel auf mehreren Ebenen gearbeitet. Neben der Thematisierung aktueller Probleme im gegenwärtigen Lebensumfeld wird häufig auch auf die Dinge Bezug genommen, die in der Großfamilie erzählt werden und es werden Erinnerungen der PatientInnen an die Zeit vor der Migration aufgegriffen. Bei der Aufarbeitung dieser Aspekte wird immer wieder ein Austausch über die kulturellen Rahmenbedingungen eingeleitet, auf die sich die PatientInnen beziehen. Es werden auch indigene Krankheitsvorstellungen in die psychotherapeutische Arbeit einbezogen, und es wird nach Konfliktlösungsstrategien gesucht, die für das soziale Umfeld der PatientInnen (inklusive der Großfamilie im Heimatland) akzeptabel sind. Bei dieser Arbeit geht es nicht darum, die PatientInnen auf eine unterstellte "traditionelle Identität" zurückzuwerfen, sondern es soll ihnen geholfen werden, ihre unterschiedlichen kulturellen Bezugspunkte zu integrieren.

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Das Setting der ethnopsychiatrischen Gruppentherapien

In der Kinder- und Jugendambulanz des Krankenhauses Avicenne werden sowohl als Einzel- als auch Gruppentherapien durchgeführt. Für das ethnopsychiatrische Gruppensetting gibt es bestimmte Indikationen. Etwas vereinfachend könnte man sagen, daß sie immer dann eingesetzt werden, wenn in einer konventionellen Therapie mit den MigrantInnen keine therapeutische Beziehung aufgebaut werden konnte; wenn ein unüberwindbarer Bruch zwischen dem Leben vor der Migration und dem aktuellen Leben zu bestehen scheint; oder schließlich, wenn im Diskurs der PatientInnen der Bezug auf indigene Vorstellungen vorherrschend ist. Die Gruppentherapien werden in einem multikulturellen Team durchgeführt, das aus einer leitenden TherapeutIn, einer ÜbersetzerIn und mehreren Co-TherapeutInnen (und PraktikantInnen) besteht. Die sogenannte "große Gruppe" besteht aus einem Team von ca 15 MitarbeiterInnen. Manchmal wird auch in einer kleinen Gruppe gearbeitet, die sich aus ca 5-6 Personen zusammensetzt. Die Gruppentherapien werden in der Regel mit der gesamten Familie der PatientInnen durchgeführt, unabhängig davon, ob die Schwierigkeiten eines Kindes oder eines Erwachsenen Auslöser für die Therapie waren. Durch diese Arbeit soll eine Veränderung des Familiensystems als Ganzem ausgelöst werden. Die Therapiesitzungen dauern etwa zwei Stunden und finden in zweimonatigem Abstand statt. Bei Bedarf wird parallel zur Gruppentherapie eine einzeltherapeutische Behandlung angeboten.

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Fallbeispiel: Sophie Akouala

Sophie ist ein fünfjähriges Mädchen, dessen Eltern aus Kongo-Kinshasa nach Frankreich migrierten. Sophie war in der Vorschule durch hyperaktives Verhalten aufgefallen. Die Schulpsychologin hatte daraufhin eine Betreuung eingeleitet und in diesem Rahmen Kontakt mit den Eltern aufgenommen. Sie führte mehrere Gespräche mit Sophies Mutter, die sie als stark depressiv verstimmt beschreibt. Da sie den Eindruck gewonnen hatte, daß Sophies Schwierigkeiten in einem engen Zusammenhang mit einer konflikthaft erlebten Migration der Eltern standen, schlug die Schulpsychologin eine ethnopsychiatrische Behandlung vor.

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Erste Therapiesitzung

Wie üblich sitzt die TherapeutInnengruppe bereits in einem Kreis im Behandlungsraum, als Sophie und ihre Familie zur Therapie erscheinen. Für die Eltern sind zwei Plätze neben der leitenden Therapeutin freigehalten, für die Kinder stehen in der Mitte des Kreises kleine Stühle und ein Tisch mit Spielzeug und Malutensilien bereit. Sophie und ihr dreijähriger Bruder Patrick beginnen sofort, die Spielsachen in Augenschein zu nehmen. Das Ehepaar Akouala richtet sich auf seinen Plätzen ein. Frau Akouala trägt die vier Wochen alte Laurence, jüngste Tochter der Familie, auf dem Arm. Beide Eltern machen einen müden und abgespannten Eindruck.

Zu Beginn der Sitzung stellt die leitende Therapeutin die Teammitglieder und die Übersetzerin vor. Sie erklärt, daß die beiden Ehepartner ganz nach Wunsch auf Französisch oder in ihrer Muttersprache sprechen können. Da Frau Akouala die französische Sprache nur bedingt beherrscht, wird während der Sitzung alles Gesagte für sie übersetzt. Zunächst wird die Schulpsychologin zu Wort gebeten. Sie berichtet von Sophies Schwierigkeiten in der Vorschule. Sophie sei rastlos und es falle ihr enorm schwer, bei einer Sache zu bleiben. Gleichzeitig mache sie aber einen sehr aufgeweckten und intelligenten Eindruck. Frau Akouala stimmt dieser Beschreibung zu. Sophie sei sehr unruhig. Es gelinge ihr nicht, sich auf eine Sache zu konzentrieren oder auch einfach nur fünf Minuten auf einem Platz zu bleiben. Herr Akouala fügt hinzu, daß Sophie von klein auf sehr lebhaft war.
Um einen Eindruck von der Familiengeschichte zu bekommen, in die sich Sophies Schwierigkeiten einschreiben, bringt die leitende Therapeutin das Gespräch auf die Migration. Herr Akouala berichtet, daß er bereits vor fast zwanzig Jahren nach Europa gekommen sei. Wie so viele seiner Landsleute hatte er vorgehabt, in Europa zu studieren. Angesichts vielfältiger Schwierigkeiten mußte er dieses Vorhaben jedoch aufgeben und begann, sich mit Gelegenheitsjobs durchzuschlagen.

Heute arbeitet er als Kellner in Paris. Die Eltern von Herrn Akouala lebten in Kinshasa, sie waren damals mit seiner Migration einverstanden gewesen, auch wenn es ihnen schwerfiel, ihren Sohn gehen zu lassen, vor allem weil dieser seinem Vater durch seine Position als Erstgeborener sehr nahe stand. Frau Akouala hatte bis vor sechs Jahren bei ihrer Familie in Kinshasa gelebt. Vor der Hochzeit war ihr bereits klar gewesen, daß sie ihrem Ehemann nach Frankreich folgen würde. Aber damals hatte sie keine Vorstellung davon, was sie dort erwarten würde. Die Ankunft in Frankreich war eine große Enttäuschung für die junge Frau. Die Familie war weit weg, das neue Umfeld alles andere als einladend. Sehr bald wurde sie schwanger mit Sophie, ihrem ersten Kind. Allein in dieser Situation des Übergangs, des Mutter-Werdens, fern von den anderen Frauen aus der Großfamilie, erlebte Frau Akouala ihre Schwangerschaft als eine Zeit der Bedrohung und der Trauer.

Auf Frau Akoualas Erzählung hin erkundigt sich die leitende Therapeutin, ob sie sich an Träume aus der Zeit der Schwangerschaft erinnern könne. Damit versucht sie, einen Zugang zu den inneren Bildern zu bekommen, die Frau Akouala während der Schwangerschaft von ihrem ungeborenen Kind entwickelt hat. Gleichzeitig spielt sie mit dieser Intervention auf die in vielen afrikanischen Kulturen verbreitete Vorstellung an, daß die Träume einer Frau aus der Zeit ihrer Schwangerschaft etwas über die "Natur" des ungeborenen Kindes aussagen. Frau Akouala erzählt auf diese Frage hin, sie habe damals ein Mädchen im Traum gesehen. Nach einem Zögern fügt sie hinzu: "Da waren auch andere Träume gewesen, erschreckende Träume… " Sie habe viel von ihrem Vater und von ihrer Schwester geträumt, die beide verstorben waren. In Frankreich fühlte sie sich derart fern von ihrer Familie, daß sie niemandem von ihren Träumen erzählte. Bis heute hat sie das Gefühl, sich mit den Sorgen um ihre älteste Tochter nicht an ihre Familie wenden zu können. Daher weiß in der Großfamilie keiner über Sophies Probleme Bescheid. An dieser Stelle wird bereits deutlich, wie sehr sich für Frau Akouala die Gedanken an die Geburt ihrer Tochter mit der Trauer um Vater und Schwester vermischt haben.

Als Frau Akouala ihre Schwierigkeiten anspricht, sich Unterstützung aus der Großfamilie zu holen, erkundigt sich die leitende Therapeutin, wie die Ehe des Paars zustande gekommen sei. Sie geht damit der Vermutung nach, daß es möglicherweise Konflikte im Zusammenhang mit der Eheschließung gegeben habe, die nun den Kontakt mit der Großfamilie belasteten. - War die Ehe von den Familien arrangiert worden? Herr Akouala antwortet recht resolut, die Ehe sei durch ihn arrangiert worden, denn er habe seine Frau ausgewählt. Die beiden Familien seien aber einverstanden gewesen. Durch den Brautpreis sei die Verbindung dann endgültig besiegelt worden und damit sei auch die Frage nach der Zugehörigkeit der Kinder geregelt. Erklärend fügt er hinzu, daß die Familie seiner Ehefrau zu einer Ethnie gehört, die traditionell matrilinear organisiert ist, wohingegen seine eigene Familie zu einer patriliniearen Ethnie gehört. In der matrilinearen Familienorganisation gehören die Kinder zur Großfamilie der Mutter, in der patrilinearen zu der des Vaters. Im Prinzip könnten also beide Großfamilien Anspruch auf die Kinder erheben. Herr Akouala unterstreicht jedoch, daß durch die Aussteuer, die er bei der Hochzeit der Familie seiner Frau zukommen ließ, die Zugehörigkeit der Kinder zu seiner Großfamilie gesichert sei. Frau Akouala pflichtet ihm bei, die Kinder gehörten zur Familie des Vaters. Hier wird eine mögliche Konfliktlinie deutlich: Wenn auch das Ehepaar davon überzeugt ist, daß die Zugehörigkeit der Kinder geregelt sei, kann es möglicherweise andere Ansichten in der Großfamilie von Frau Akouala geben…

Während ihre Eltern von der Migration und der Familiengeschichte erzählen, spielen Sophie und Patrick unbekümmert in der Mitte des Kreises. Nach und nach beginnen sie, mit dem Team Kontakt aufzunehmen. Sie laufen hin und her und überreichen den Co-TherapeutInnen ihre gerade gemalten Bilder. Zwischendrin laufen sie auch immer wieder zu ihren Eltern. Sophie zeigt sich während der Sitzung lebhaft, aber keinesfalls hyperaktiv. Frau Akouala ist ganz erstaunt über ihre älteste Tochter. So ruhig sei sie sonst nie, vor allem nicht, wenn sie das Haus verlassen habe! Als Sophie dann im Streit mit ihrem Bruder um ein Spielzeug doch etwas rabiater wird, weist ihre Mutter sie zurecht. "Joan!" ruft sie ihr zu. Verdutzt fragt die Therapeutin nach dem Ursprung dieses zweiten Namens. Frau Akouala erklärt, daß sie ihn vor der Geburt für ihre Tochter ausgesucht habe. Joan war eine Figur in einem amerikanischen Film, eine erfolgreiche Anwältin. Als das Kind auf Wunsch des Vaters Sophie genannt worden sei, habe sie den von ihr gewählten Namen beibehalten. Lächelnd stimmt sie zu, als die Therapeutin vermutet, Frau Akouala habe vielleicht große Ambitionen mit ihrer Tochter. Hier zeichnet sich ab, daß Sophie für ihre Mutter Trägerin eines Frauenbildes ist, das in gewissem Gegensatz zu ihrem eigenen Lebensweg steht. Vielleicht hat sie in einigen Aspekten ihre Wünsche nach einem Leben als starke, durchsetzungsfähige Frau an ihre Tochter delegiert…

Nachdem Herr und Frau Akouala in diesen ersten Momenten der Therapiesitzung wichtige Aspekte ihrer Migrationsgeschichte erzählten, beginnt die leitende Therapeutin, gemeinsam mit dem Team die Vorstellungen auszuloten, die die beiden Eltern in bezug auf die Schwierigkeiten ihrer Tochter haben. Über Rückfragen wie etwa "Was sagt man denn in Ihrer Familie über so ein Kind, das so rastlos ist wie Sophie?" ermuntert die Therapeutin die beiden Eltern zu Erzählungen im Rahmen von Vorstellungen aus ihrer Herkunftskultur. Diese werden selten explizit geäußert, sie werden meist in der Form von Andeutungen, Vermutungen, oder als Meinung anderer Personen zum Leid der Familie vorgebracht. Herr und Frau Akouala sprechen zunächst in sehr vager Form davon, daß Sophies Schwierigkeiten im Zusammenhang mit "afrikanischen Sachen" stehen könnten. Derartige Andeutungen können als ein vorsichtiges Antesten angesehen werden, in dem die PatientInnen ausprobieren, wie die TherapeutInnen auf fremde Vorstellungen reagieren werden. Nach diesen vorsichtigen Sondierungen, bringt Herr Akouala einen konkreteren Verdacht ein.

Er erzählt, daß er in Kinshasa eine bekannte Person gewesen sei und dementsprechend gefährdet gewesen sei. Die leitende Therapeutin greift diese Andeutung auf und fragt nach: "Sprechen Sie vom Neid ?" Damit spielt sie auf die Möglichkeit einer Hexereiattacke an (das Thema Hexerei wird häufig im Zusammenhang mit dem Stichwort "Neid" eingeführt). Auf diese Frage hin erzählt Herr Akouala von den vielen Gelegenheiten in seinem Leben, in denen er dem Neid der anderen ausgesetzt war. Bereits als Kind hatte ihn sein Vater für eine Zeit in einem Nachbardorf leben lassen, um ihn vor Hexereiattacken zu schützen. Später, zur Zeit seines beruflichen Erfolgs, wurde diese Bedrohung derartig unerträglich, daß er sich entschloß, nach Europa auzuwandern. Und selbst jetzt, bei der Geburt seiner ersten Tochter, fühlte er sich dem Neid der Nachbarn ausgesetzt, die er als stolzer Vater kurz nach Sophies Geburt zu sich eingeladen hatte.

In seinen Erzählungen, die sich hier um das Thema Hexerei ranken, baut Herr Akouala einen Zusammenhang zwischen seiner eigenen Geschichte und den aktuellen Schwierigkeiten seiner Tochter auf. Dabei entsteht ein erster Faden einer erzählbaren Geschichte, in der Sophies Probleme nicht mehr einen unverständlichen Fremdkörper darstellen, sondern Teil der Familiengeschichte werden. Entsprechend der ethnopsychiatrischen Maxime, kulturspezifische Vorstellungen nicht auf individueller Ebene zu deuten, wird die Vorstellung, durch Hexerei bedroht zu sein, nicht als Verfolgungsidee interpretiert. Das Thema Hexerei wird vielmehr als ein Bezugsrahmen akzeptiert, den Herr Akouala einführt, um darin sein Erleben zu beschreiben. Erst die konkreten Geschichten, die er innerhalb dieses Bezugsrahmens erzählt, wären nach der ethnopsychiatrischen Technik einer psychologischen Deutung zugänglich. Im Falle von Herrn Akouala zeichnet sich eine Problematik ab, bei der der Zugang zu Erfolg immer wieder verhindert wird, da er durch den Neid der anderen bestraft wird. Im weiteren Verlaufe der Therapie wird die Verstrickung dieser Problematik mit der Beziehung von Herrn Akouala zu seinem Vater deutlich werden.

Auch bei Frau Akouala ruft das Thema Hexerei Assoziationen hervor, wobei sie jedoch einem anderen Erzählstrang folgt: Sie greift die Vermutung auf, daß ihre eigene Familie die Schwierigkeiten von Sophie verursacht haben könnte. "Wissen Sie, in den matrilinearen Familien gibt es sehr viel Hexerei…" Für Frau Akouala verweist das Thema Hexerei auf ungeklärte Familienkonflikte.
Da es sich hier um eine erste Sitzung handelt, in der es zunächst einmal darum geht, eine tragfähige Beziehung zwischen den PatientInnen und dem Team aufzubauen, werden die indigenen Vorstellungen, die das Ehepaar einbringt, nur angerissen, ohne daß sie in der Tiefe bearbeitet würden (was zum Beispiel heißen könnte, daß man bei Hexereiverdacht Fragen nachginge wie - Wer könnte der Verursacher sein ? - Warum war die PatientIn zu einem bestimmten Zeitpunkt verletzlich ? - Wo wäre Hilfe zu erwarten ? ; etc.) .

Die indigenen Vorstellungen sind oft sehr angstbelegt und müssen daher mit einer gewissen Vorsicht behandelt werden. In dieser Sitzung bringt das Ehepaar Akouala neben dem Hexereiverdacht noch eine Reihe weiterer indigener Vorstellungen an. Sie sprechen zum Beispiel davon, daß Sophie manchmal "wie zwei Personen" sei (was unter Umständen eine Andeutung auf einen Anschlag durch einen Geist sein könnte, oder aber auf die "Rückkehr" eines Verstorbenen). Es gibt für die Akoualas nicht eine indigene Vorstellung, die sie sozusagen als Erklärung für ihr Leid im Hinterkopf hätten, sondern eine Reihe von Vorstellungen, die sie auf der Suche nach einem sinnstiftenden Rahmen, der ihre Schwierigkeiten verstehbar und veränderbar machen könnte, aufgreifen.

Bei der Erkundung der Vorstellungen, die die Eltern in bezug auf die Probleme ihrer Tochter haben, werden die Co-TherapeutInnen in die Arbeit einbezogen. Diese wenden sich nicht direkt an die PatientInnen, sondern an die leitende Therapeutin, die Interventionen manchmal direkt weiterleitet, manchmal wiederholt, manchmal auch umformuliert oder abschwächt.

Die Co-TherapeutInnen bringen ihre Interventionen vorzugsweise in der Form von Bildern und Geschichten ein. So greift zum Beispiel ein Co-Therapeut die Trauer und die Einsamkeit auf, die Frau Akouala während der Schwangerschaft erlebt hat. Er erzählt, wie in seiner Heimat (in der Kabylei, Algerien) die schwangeren Frauen von anderen Frauen umgeben sind, die ihnen helfen, Mutter zu werden. Er erzählt, wie sich die Frauen beim Wasserholen treffen und am Brunnen miteinander scherzen, Neuigkeiten austauschen und Ratschläge erteilen. Die Einsamkeit von Frau Akouala zur Zeit von Sophies Geburt habe ihn an ein Sprichwort aus seiner Heimat denken lassen: "Wenn in den Bergen der Schnee fällt, zieht die Kälte bis in die Täler…" Bilder wie dieses werden in der Therapie nicht interpretiert, sondern stehen gelassen. Manchmal werden die PatientInnen gefragt, welche Assoziationen ihnen zu diesen Bildern kommen, manchmal werden die Bilder ihnen am Ende der Therapiesitzung "mit nach Hause gegeben".

Ein anderer Co-Therapeut geht auf die Suche der Akoualas nach Hilfe ein. Er erzählt von dem langen Weg, den Eltern auf sich nehmen, um herauszufinden, was mit ihrem Kind los ist. In manchen Fällen bleibe da immer eine Frage offen, die Antworten der Ärzte reichten nicht aus, um zu verstehen, was es mit den Schwierigkeiten des Kindes auf sich habe. In "seinem Dorf" (einem Berberdorf in Marokko) gingen die Eltern in einem solchen Falle zu einem Weisen, um Rat zu holen. Außerdem würden von Geburt an Dinge getan, um das Kind zu beschützen. Frau Akouala greift diese Intervention auf und erzählt, daß diese Dinge bei ihr zu Hause ganz ähnlich geregelt würden. Wenn es Probleme mit einem Kind gebe, würde man zunächst in der Familie Rat suchen. Dann würde in der Familie beschlossen, ob man bei einem traditionellen Heiler Hilfe suchen sollte. In bezug auf Sophie sei die Situation aber etwas anders. Die Suche nach einer Antwort stünde ihr nicht zu, dies sei Sache ihres Mannes… In diesem Moment schaltet sich Herr Akouala ein und sagt, er habe entschieden, seine Tochter durch Gebete zu beschützen, denn wie viele Menschen in Afrika habe er den christlichen Weg eingeschlagen. Mit diesem Einwurf wird deutlich, daß Herr Akouala keinesfalls möchte, daß seine Frau oder deren Familie Entscheidungen über die Suche nach Hilfe für Sophie treffen. Gleichzeitig drückt Herr Akouala aus, daß er auf jeden Fall vermeiden will, auf indigene Praktiken zurückzugreifen. "Das ist eine Verpflichtung auf Lebenszeit, damit fängt man besser gar nicht erst an !"" fügt er erklärend hinzu.

Nachdem die Co-TherapeutInnen noch weitere Geschichten und Bilder zu den Erzählungen von Herrn und Frau Akouala angebracht haben, schließt die leitende TherapeutIn die Sitzung mit einer Art "Auftrag". Sie schlägt Frau Akouala vor, mit ihrer Mutter über Sophies Probleme zu sprechen. Damit ermuntert sie Frau Akouala, den Kontakt zu der Familie mütterlicherseits wieder zu intensivieren. Gleichzeitig deutet sie aber auch an, daß diese Familie etwas zu den Schwierigkeiten von Sophie zu sagen habe. Dementsprechend heftig reagiert Herr Akouala auf diesen Vorschlag (der ja die alleinige Zuständigkeit von seiner Familie für die Probleme der Kinder in Frage stellt): "Wenn ihre Familie anfängt, Sachen zu machen, ist meine nicht unbedingt damit einverstanden! Das könnte Konflikte auslösen." Die Therapeutin wendet ein, daß es ja nicht darum ginge, die Familie seiner Frau zum Handeln zu bewegen, sondern vielmehr darum, sich mit ihnen über die Sorgen in bezug auf Sophie auszutauschen. Mit diesem Vorschlag ist dann auch Herr Akouala einverstanden.

Nach Abschluß der Sitzung läßt sich die Familie mit dem Aufbruch Zeit. Frau Akouala bleibt noch eine Weile in ihrem Stuhl sitzen. Es wirkt, als wenn die Therapiesitzung der Familie eine Atempause ermöglicht hätte und als ob es ihnen schwer fiele, nun wieder nach außen zu treten. Nachdem die Familie aufgebrochen ist, tauschen sich die Co-TherapeutInnen über das Geschehen in der Therapie und über ihren persönlichen Eindruck von Sophies Familie aus. In diesem Austausch bringt die Schulpsychologin eine wichtige Zusatzinformation ein. Kurz bevor Frau Akouala nach Frankreich aufbrach, ist ihre Schwester in einem Pariser Vorort angefahren worden und kam dabei zu Tode. Die extreme Verunsicherung von Frau Akouala in der ihrer ersten Zeit in Frankreich wird vor dem Hintergrund dieser Zusatzinformation noch besser verständlich: Sie hatte nicht allein die Migration und den Abstand von der Familie zu verarbeiten, sie war zudem an einen Ort gekommen, der sich als äußerst bedrohlich, ja ebensgefährlich darstellte…

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Kommentar

Sophies Eltern waren zum Zeitpunkt ihrer Geburt (und auch danach) in einem Zustand äußerster Verunsicherung. Da sie das erste Kind ihrer Eltern ist und gleichzeitig auch die Erstgeborene in der Migration, ist sie in gewisser Weise die "Trägerin der Migrationsgeschichte" und die "Trägerin der Verbindung der Eltern". Das innere Bild, das sich die beiden Eltern von ihrer Tochter gemacht haben, ist für beide mit äußerst beängstigenden Erinnerungen vermischt. Es kann vermutet werden, daß es ihnen schwerfiel, eine tragfähige Beziehung zu Sophie aufzubauen. In der Therapie wird versucht, den Eltern einen Raum zu geben, in dem sie die Konflikte aufarbeiten können, die sich mit ihrem inneren Bild von Sophie vermischt haben. Die Kinder, die die Erzähungen ihrer Eltern während der Therapie hören (und die daran geknüpften Emotionen der Eltern spüren), können in den Sitzungen lernen, daß das Leid ihrer Eltern mit Geschichten aus der Vergangenheit zusammenhängt. Selbst wenn die angesprochenen Geschichten schmerzvoll sind, werden die Kinder entlastet, denn sie sehen, daß das Leid ihrer Eltern nicht durch sie hervorgerufen wurde und daß es Orte gibt, an denen den Eltern geholfen werden kann.

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Zweite Therapiesitzung

Zwei Monate später berichtet die Schulpsychologin in der folgenden Sitzung von einer deutlich positiven Entwicklung. Erstmalig höre sie positive Bemerkungen der Lehrer zu Sophie, sie sprächen nicht mehr allein von ihren Verhaltensauffälligkeiten, sondern ebenfalls von ihrem inneren Reichtum und ihrer Kreativität. Die beiden Eltern sind sehr froh über diese Entwicklung und der Beginn der Therapiesitzung ist dementsprechend entspannt.

Zunächst thematisiert die leitende Therapeutin die unterschiedlichen Sprachen, die in der Familie Akouala gesprochen werden. Sie hatte einen französischen Wortwechsel zwischen Frau Akouala und ihrer Tochter aufgeschnappt und wollte nun wissen, in welcher Sprache die Eltern gewöhnlich mit den Kindern kommunizieren. Die Akoualas erzählen daraufhin, daß sie - wie viele MigrantInnen in Frankreich - mit den Kindern aussschließlich französisch sprechen. Dies geschieht häufig in der irrigen Annahme, daß die Kinder so leichter Französisch lernen würden. Im Fall der Familie Akouala ist diese Tatsache umso bedenklicher, als Frau Akouala nur über sehr begrenzte Französischkenntnisse verfügt. Sie kommuniziert mit ihren Kindern in einer Sprache, die für sie emotionsfern ist und in der sie sich nur sehr simpel ausdrücken kann. Sophies Eltern sprechen untereinander Lingala, offizielle Sprache in Kinshasa. In ihrer eigenen Kindheit hatten Herr und Frau Akouala bereits eine ähnliche Koexistenz der Sprachen erlebt. Sophies Großeltern (väterlicherseits und mütterlicherseits) waren vom Land in die Stadt migriert. Untereinander hatten sie nach der Migration weiterhin ihre jeweilige Muttersprache gesprochen, mit den Kindern hingegen die Sprache des neuen Umfelds. Diese Zusammenhänge sind für ein Verständnis der Rolle der Sprachen in der Familie Akouala äußerst wichtig. Die persönliche Erfahrung, eine andere Sprache als diejenige der Eltern gesprochen zu haben, könnte für die Akoualas als Beispiel dafür dienen, daß trotz Sprach- und Umfeldwechsel eine Kontinuität zwischen den Generationen bestehen kann. Herr Akouala hat jedoch auch einen Sprachwechsel erfahren, der die Form eines brutalen Bruchs einnahm. Er besuchte eine katholische Missionarsschule, in der es unter Strafe verboten war, irgendeine andere Sprache als das Französische zu sprechen. Er erzählt, wie die Kinder lächerlich gemacht wurden, wenn sie dabei erwischt wurden, daß sie untereinander Lingala sprachen. Vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge ermuntert die leitende Therapeutin die Eltern, gelegentlich mit ihren Kindern Lingala zu sprechen, selbst wenn sie zunächst den Eindruck hätten, die Kinder verstünden sie nicht. Damit soll vor allem Frau Akouala ermuntert werden, in der Kommunikation mit ihren Kindern auf die für sie wesentlich emotionsnähere Sprache zurückzugreifen. Gleichzeitig soll eine rigide Lösung (ausschließlich Lingala oder ausschließlich Französisch zu sprechen) vermieden werden, da sie bei Eltern und Kindern ein Gefühl der Unvereinbarkeit der verschiedenen Sprachen (und der daran gebundenen Denkweisen) hervorrufen könnte.

Nach dem relativ unbeschwerten Einstieg in die Therapiesitzung erzählt Frau Akouala, daß sie vor kurzem wieder von ihrem Vater und ihrer Schwester geträumt habe. Anders jedoch als zur Zeit ihrer Schwangerschaft war sie jetzt im Traum nicht mehr vom Schrecken überwältigt gewesen. Sie erzählt, daß sie ihrer verstorbenen Schwester immer sehr nahe gewesen sei. Da die Schwester die einzige Person aus der Familie war, die in Europa lebte, war ihr Tod kurz vor Frau Akoualas Migration ein schwerer Schlag gewesen. Die Brutalität dieses Todes ließ das französische Umfeld für Frau Akouala zu einem Ort der Angst, der Trauer und der Bedrohung werden.

Auch Herr Akouala wirkt sehr betroffen, als er sich an den Tod der Schwester seiner Frau erinnert. Die Erzählung seiner Frau hat ihn an einen anderen Verlust erinnert, an den seines Vaters. Der Vater war verstorben, als Herr Akouala bereits in Europa lebte. Er hatte seinen Vater vor dessen Tod nicht mehr besuchen können. Das war umso schmerzhafter für Herrn Akouala, als der Vater ihm sein Leben lang angekündigt hatte, er werde ihm zur Stunde seines Todes "seine Kraft" übermitteln. Der Vater von Herrn Akouala war ein sehr angesehener Heiler gewesen. Herr Akouala erinnert sich, daß er als kleiner Junge mehrfach Opfer von Hexereiattacken gewesen war. Immer wieder hatte ihn jedoch "die Macht des Vaters" beschützt. Als junger Mann bekehrte er sich zum Katholizismus, ohne seinen Vater davon zu unterrichten. Er ließ sich taufen und nahm einen neuen Namen an. Seitdem ist sein Verhältnis zu den animistischen Praktiken des Vaters sehr ambivalent: Einerseits hält er sie für den einzig wirksamen Schutz gegen Hexerei, andererseits lehnt er sie als gläubiger Katholik ab. Als Herr Akouala zu einer bekannten Persönlichkeit in Kinshasa wurde, wandte er sich auch von der katholischen Religion ab. Von staatlicher Seite wurden religiöse Praktiken ungern gesehen. "Wir waren Materialisten geworden" erklärt Herr Akouala. Gleichzeitig fühlte er sich jedoch durch diese Abkehr den Agressionen seiner Konkurrenten völlig schutzlos ausgeliefert. Als diese Situation unerträglich wurde, wanderte Herr Akouala nach Europa aus. Die Migration von Herrn Akouala, die auf den ersten Blick unproblematisch erscheint (er wollte einfach studieren), trägt also für ihn auch die Züge einer Flucht. Die Geschichte von Herrn Akouala wirkt wie eine Aneinanderreihung von Situationen, in denen er versuchte, sich von seinem Vater (später von der Kirche, dann von der weltlichen Macht…) abzukehren, indem er sich in einen neuen Zusammenhang einzuschreiben versuchte. Dieser Übergang gelang jedoch nie wirklich, da er sich von keinem Vaterersatz wirklich beschützt fühlte. Einerseits schien es ihm nur möglich, in eine Position erfolgreichen Handelns zu treten, wenn er sich in der Folge seines Vaters sehen könnte, andererseits lehnte er die animistischen Praktiken seines Vaters ab und fühlte sich daher außerstande, in dessen Folge zu treten.

In dieser Sitzung wird deutlich, wie eng die Geschichte der Migration und die Geburt von Sophie für beide Eltern mit Verlusterlebnissen verknüpft sind. Die leitende Therapeutin weist auf die Verbindung zwischen der Trauer der Eltern und den Verhaltensauffälligkeiten von Sophie hin und deutet Sophies Unruhe in diesem Kontext: "Sophie trägt diese Trauer ebenfalls in sich, sie läuft herum, um zu vergessen!". Frau Akouala erzählt auf diese Äußerung hin, daß sie manchmal den Eindruck habe, Sophie verfüge über ein "besonderes Wissen". Vielleicht habe die Bekannte ja recht, die angedeutet hatte, Sophie sei ein wiedergekehrter Ahne? Vielleicht sei die Schwester zurückgekommen? Die leitende Therapeutin nimmt diese Idee auf. Angesichts der unverarbeiteten Verluste, die die beiden Ehepartner in dieser Sitzung beschrieben haben, schlägt sie vor, etwas zu unternehmen, um "die Ahnen zu befrieden". Vielleicht sollten sie eine Messe lesen lassen oder ein Opfer darbringen? Der Vorschlag, den sie hier einbringt, wird bewußt vage formuliert. Damit soll der Familie die Möglichkeit gegeben werden, selbst nach einer Form zu suchen "die Ahnen zu befrieden". Die leitende Therapeutin versucht, das Ehepaar dazu anzuregen, nach einem für sie sinnstiftenden kulturellen Rahmen für eine Aufarbeitung ihrer Verluste zu suchen.

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Weiterer Verlauf der Therapie

Im Verlaufe der Therapie gelang es Sophies Eltern zunehmend besser, ihre belastenden Erinnerungen und die unverarbeiteten Verluste von dem inneren Bild ihrer Tochter zu trennen. In einer Sitzung schilderte Frau Akouala, wie sie vor kurzem von einer tiefen Trauer erfaßt wurde, als Sophie für drei Tage auf eine Freizeit gefahren war. In der Therapie wurde dann bearbeitet, wie diese Trauer ähnlich und doch ganz anders war als die Trauer, die Frau Akouala seit dem Tod ihrer Schwester empfindet. Langsam konnte so das innere Bild, daß Frau Akouala von ihrer Tochter in sich trägt, von dem Verlust der Schwester getrennt werden.
Was Herrn Akouala betrifft, wurde im Verlaufe der Therapie immer deutlicher, wie sehr für ihn die Suche nach Hilfe für Sophie mit seiner persönlichen Problematik verbunden ist. Wie in seiner Jugend, als er versucht hatte, den Schutz seines Vaters gegen den der Kirche auszutauschen und diesen schließlich gegen Macht und Einfluß ausgetauscht hatte, so versucht er auch in der Therapie, möglichst "woanders" nach Hilfe zu suchen. Entsprechend schwierig war es für die Familie, den Auftrag der leitenden Therapeutin aufzugreifen und einen Ort zu finden, an dem sie "die Ahnen befrieden" könnten. In einer Sitzung erzählte Herr Akouala, daß er sich jetzt bei einem Marabout um Hilfe bemühen wolle, da sie ja in Paris "unter die Muslime geraten" seien. Diese Äußerung, die zunächst einmal wie eine kreative Aneignung des aktuellen Umfeldes und seiner Ressourcen wirken könnte, schrieb sich bei Herrn Akouala in eine Strategie des Ausweichens ein, die ihn immer wieder dazu führte, nach neuen Orten des Schutzes und der Hilfe zu suchen. Die Dringlichkeit dieser Suche wurde deutlich, als er einen marokkanischen Co-Therapeuten direkt ansprach und ihn fragte, ob er vielleicht einen guten Marabout in Paris kenne. Dieser antwortete mit einem Lächeln: "Ich kenne nur die Heiler in meinem Dorf…"
Im Verlaufe der Therapie begann Herr Akouala ganz allmählich die Verbindung seiner Flucht nach vorn mit seinem ambivalenten Verhältnis zu seinem Vater aufzuarbeiten. Während einer Sitzung schilderte er seine Angst und seine Einsamkeit. Er fühle sich anders, fremd, ausgestossen. Er faßte diese Angst in ein Bild, das zeigte, wie sehr seine Ängste mit religiösen Fragen und religiöser Symbolik vermischt waren: "Wissen Sie, die wilden Tiere reißen immer das Schaf, das sich von der Herde entfernt hat…"
Die Therapie mit der Familie Akouala dauert weiter an. Herr Akouala beginnt, seinem Vater gegenüber einen neuen Standpunkt zu entwickeln, der weder durch panische Angst vor dessen Macht noch von einer Rebellion gegen alles, was vom Vater kommt, geprägt ist. Frau Akouala läßt sich durch die Therapiegruppe stützen und findet allmählich aus ihrer Erstarrung in einer Position unmöglicher Trauerarbeit heraus. Sophie macht beeindruckende Fortschritte. Sie ist deutlich entlastet, seitdem es einen Ort gibt, an dem ihre Eltern die alten Konflikte bearbeiten können, die die Familie belasten.

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Die ethnopsychiatrische Praxis von Moro: eine klinische Weiterentwicklung der Ethnopsychoanalyse in Frankreich

In Moros ethnopsychiatrischen Gruppentherapien wird auf verschiedenen Ebenen gearbeitet, um der Komplexität der Zusammenhänge Rechnung zu tragen, in die sich die Schwierigkeiten der einzelnen Familienmitglieder einschreiben. Dabei werden sowohl konkrete Probleme des gegenwärtigen Alltags (etwa Konflikte, die die Kinder in der Schule haben, Probleme der Familie bei der Wohnungssuche etc.) angesprochen, als auch Ereignisse aus der Familiengeschichte, die auf die Zeit vor der Migration zurückgehen. Das Erzählen der Migrationsgeschichte spielt eine besonders wichtige Rolle. Mit dieser Erzählung soll ein Prozeß der Verknüpfung der Zeit vor und nach der Migration in Gang gesetzt werden, der bei vielen der PatientInnen erstarrt ist, vor allem wenn sie die Migration als Bruch erlebt haben. Auch die Vermittlung zwischen unterschiedlichen Auffassungen innerhalb der Familie und die Frage der intergenerationellen Vermittlung (von Wissen, von Lebensart, …) nehmen einen wichtigen Platz ein. Die unterschiedlichen Konflikte, die für die Eltern mit der Migration und mit der Elternschaft zusammenhängen, werden in der Therapie allmählich aufgearbeitet und von dem alltäglichen Leben mit den Kindern getrennt. Oft hören diese in der Therapie zum ersten Mal die Geschichte der Migration ihrer Eltern.
Eine sehr wichtige Rolle nimmt die ÜbersetzerIn in der Therapie ein. Sie ist nicht allein SprachvermittlerIn. Manchmal nimmt sie für die PatientInnen die Rolle einer RepräsentantIn ihrer Umgebung im Heimatland ein, manchmal wird sie zu einer Identifikationsfigur (z.B. für Kinder), da sie die Möglichkeit, zwischen verschiedenen Sprachen und Denkweisen zu wechseln, in einer positiven Weise verkörpert.
Die Arbeit im multikulturellenTeam ermöglicht, unterschiedliche Blickwinkel nebeneinander zu stellen, ohne daß dabei der eine den anderen ungültig machen würde. Die Bilder und Geschichten, die die Co-TherapeutInnen einbringen, setzen einen Prozeß des Austausches und der gemeinsamen Konstruktion von Bedeutungen in Gang. Sie haben zum Ziel, die Assoziationsfähigkeit der PatientInnen zu "nähren" und ihnen zu helfen, selbst Geschichten zu formulieren und neue Sinnzusammenhänge zu produzieren. Die kulturellen Bezüge der PatientInnen werden in einem Oszillieren zwischen ihren Assoziationen und den Interventionen der TherapeutInnen erkundet und neuformuliert. Der Diskurs, der dabei entsteht, ist gerade nicht durch naturalistische Zuschreibungen in bezug auf die Kultur der PatientInnen gekennzeichnet, sondern durch eine Vielstimmigkeit, in der die Grenzen von Änlichem und Fremden verschiebbar bleiben. In bestimmten Momenten - etwa, als der marrokanische Co-Therapeut von den Frauen aus seinem Dorf erzählt - kann zwischen Co-TherapeutIn und PatientIn eine Nähe hergestellt werden, die nicht unbedingt auf einen geteilten kulturellen Hintergrund aufbauen muß. In anderen Momenten wiederum - wie etwa, als der selbe Co-Therapeut darauf verweist, daß er nur die Heiler "in seinem Dorf" kenne - kann der Unterschied, das Andersartige, betont werden.
Durch die Vielstimmigkeit und die Beweglichkeit der Grenzen zwischen Ähnlichem und Fremden entsteht in Moros Therapie ein Raum, in dem kreative Neuschöpfungen, eine Neuerfindung der eigenen Geschichte und eine Reorganisation kultureller Bezüge möglich werden. Dieser Raum mag auf psychischer Ebene am ehesten dem von Winnicott beschriebenen Übergangsraum entsprechen. Wie Nadig (2000) aufgezeigt hat, besteht eine konzeptuelle Verwandtschaft des Winnicottschen Übergangsraums zum anthropologischen Konzepts des "dritten Raums" (Bhabha 1994). Die Methapher des "dritten Raums" bezeichnet das kreative Potential eines Austauschforums, das zwischen den Migranten im Exil entsteht. Die Grenzen zwischen Eigenem und Fremden werden in diesem Raum immer wieder in Frage gestellt und neu definiert. Für Bhabha ist dieser Raum, der sich an den Rändern der dominanten Gesellschaft verortet, ein Ort der kulturellen Erneuerung.
Sieht man Moros Therapieansatz, in dem systematisch eine Neuverhandlung kultureller Bezüge und Identitäten in Gang gesetzt wird, als einen ähnlich schöpferischen Ort am Rande der (Psychotherapie-) Kultur, so wäre denkbar, daß aus ihrem - und anderen Ansätzen, die sich aus der Begegnung mit MigrantInnen entwickelt haben - neue Betrachtungsweisen entwickelt werden, die sich auf lange Sicht auch als äußerst befruchtend und erneuernd für die "Psychotherapiekultur" als Ganzes erweisen könnten.

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Literatur

  • Bhabha, H. The Location of Culture. New York: Routledge, 1994.
  • Devereux, G. Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften. München: Carl Hanser Verlag, 1973.
  • Devereux, G. Normal und anormal. Aufsätze zur allgemeinen Ethnopsychiatrie. Frankfurt: Suhrkamp, 1974.
  • Devereux, G. Ethnopsychoanalyse. Die komplementaristische Methode in den Wissenschaften vom Menschen. Frankfurt/Main: Suhrkamp Verlag, 1978.
  • Devereux, G. Realität und Traum. Psychotherapie eines Prärie-Indianers. Frankfurt: Suhrkamp, 1985.
  • Fassin, D. "Les politiques de l'ethnopsychiatrie. La psyché africaine, des colonies britanniques aux banlieues parisiennes." L'Homme 153 : 231-250, 2000.
  • Fassin, D. Pouvoir et Maladie en Afrique. Paris: PUF, 1992.
  • Moro, M.R. Parents en Exil. Paris: PUF, 1994.
  • Moro, M.R. Psychiatrie transculturelle des enfants des migrants. Paris: Dunod, 1998.
  • Moro, M.R. "Aufwachsen im Exil: Ethnopsychoanalyse mit Eltern und Kindern." in: F. Pedrina et al (eds) Kultur, Migration, Psychoanalyse, 149-188. Tübingen: edition diskord, 1999.
  • Moro M.R. (sous la direction) L'autre, n°1 "Nourritures d'enfances", Grenoble: La Pensée Sauvage Ed., 2000.
  • Nadig, M. "Interkulturalität im Prozeß. Ethnopsychoanalyse und Feldforschung als methodischer und theoretischer Übergangsraum." in: Lahme-Gronostaj, H., Leuzinger-Bohleber, M. (eds.) Identität und Differenz 40 : 87-102, Opladen: Westdeutscher Verlag, 2000.
  • Nathan, T. La folie des Autres. Traité d'ethnopsychiatrie clinique. Paris: Dunod, 1986.
  • Nathan, T. L'influence qui guérit. Paris: Odile Jacob, 1994.
  • Nathan, T. "Spécifité de l'ethnopsychiatrie" Nouvelle Revue dEthnopsychiatrie., 34, 7-24, 1997.
  • Rechtman, R. "De l'ethnopsychiatrie à l'a-psychiatrie culturelle. À propos de 'Fier de n'avoir ni pays, ni amis quelle scottise c'était' de Tobie Nathan." L'évolution psychiatrique 60 : 637-694, 1995.

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Gesine Sturm

Psychologin, Co-Therapeutin in Moros ethnopsychaitrischen Gruppentherapien,
zur Zeit Doktorarbeit bei Maya Nadig und Marie Rose Moro zu transkulturellen Psychotherapien in Deutschland und in Frankreich

Gesine Sturm
Hôpital Avicenne
service de psychiatrie de l'enfant et de l'adolescent
125, rue de Stalingrad
F-93009 Bobigny cedex
mail: sturmg[at]minitel.net

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