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Es ist eine Kunst sich eine Position zu erstreiten

Ich treffe mich mit Lilia Labidi in der Lobby des el Hana International. An den vielen Tischen, ich bin wie immer zu früh, lautes Gemurmel, ihr Verleger ist da, wir plaudern ein wenig und lernen uns kennen, wir vereinbaren den Zeitpunkt für ein ausführliches Interview nach dem Sylvestertag. Lilia Labidi ist 1949 in Tunesien geboren, sie ist Psychologin, Sozialanthropologin, Psychoanalytikerin, und Professorin an der Fakultät für Geistes- und Gesellschaftswissenschaften im Fachbereich klinische Psychologie und Sozialanthropologie der Universität Tunis, mit zahlreichen Forschungen in Ägypten, Südafrika, Tunesien und Senegal zu Fragenstellungen im Bereich der medizinischen Anthropologie, der Gender Studies und zur Erforschung der öffentlichen Moral. (Interview & Übersetzung Binja Pletzer)

Lilia, wann haben Sie angefangen sich für die Psychoanalyse zu interessieren?
Wie hat sich dieses Interesse entwickelt? Was war der springende Punkt?

Lilia (lacht): War es, als ich 4 oder 5 Jahre alt war? Jedenfalls sagte ich zu allen Leuten, die mich fragten: “Was willst du später tun? Zuerst einmal, ich will etwas mit Kindererziehung zu tun haben.“Damals hat mich schon das Verhalten von Kindern und Erwachsenen interessiert und was man sich daraus erklären konnte. Ich habe über diese Sache einmal in einem Artikel geschrieben, der gerade veröffentlicht worden ist.Ich hatte da ein Erlebnis - als Kind mit 5 Jahren - in der Schule. Meine Eltern haben mich am Morgen in eine französische Schule und am Nachmittag in die Koranschule geschickt.Der Lehrer –ein Franzose- war ein Freund meiner Familie, da gab es kein Problem. Aber eines Tages steckte der mich zur Strafe in einen Kleiderschrank, zusammen mit einem Hasen und da hatte ich wirklich Angst.Von diesem Zeitpunkt an begannen die Koranschule am Nachmittag, es war eine arme Schule, die gar nichts hatte, und die französische Volksschule am Morgen für mich zwei vollkommen gegensätzliche Dinge zu sein. Mir schien das damals schon bizarr. Wie konnte man ein Kind mit einem Tier in einen Kleiderschrank stecken und die Tür zusperren? Was konnte ein Kind schon anrichten, um ihm das anzutun? Und er war ein Freund der Familie, also war es auch nicht irgendwie boshaft gemeint. In meinen Gedanken war ein Kind zu sein und in eine Schule zu gehen, wo Dinge wie diese passieren konnten, einfach falsch, es war völlig falsch für mich.Und dann war die Koranschule, wo der Lehrer sehr hart zu den Kindern sein konnte, wenn die Kinder nicht richtig auswendig lernten oder nicht genau das sagten, was er ihnen beibrachte.Aber all das fand ich dann, nachdem was ich durchgemacht hatte, einfach nett.Ich fand, dass es wichtig ist, genau zu verstehen, was Kinder brauchen und wo Erwachsene Kindern missverstehen.Dieser Lehrer kommt immer noch hin und wieder nach Tunesien. Ich habe ihn getroffen, als ich Paris war und ihn gefragt: „Erinnern Sie sich, dass Sie mich in den Kleiderschrank gesteckt haben?“ Und er meinte: „Oh Lilia, du erinnerst dich bis heute daran?“ (Sie lacht) Da waren wir verschiedener Meinung.

Sie haben als Kind die Kolonialherrschaft der Franzosen intensiv miterlebt...

Ja, sieht man es im zeitlichen Kontext, waren in den Jahren 1953 bis 54 die Kämpfe zwischen Franzosen und Tunesiern sehr hart. Ich erinnere mich an die vielen Einschüsse an den Wänden und den leichten Schlaf meiner Mutter, und an meine Fragen, wie das passieren konnte. Für mich war das alles eigenartig.
Dann, ein, zwei Jahre später, meine Eltern zogen damals von Stadt zu Stadt, mein Vater arbeitete beim Zoll, da wohnten wir einmal nahe am Quartier der französischen Armee. Wir konnten sie von unserem Fenster aus hören und ich erinnere mich, dass meine Mutter zu uns allen sagte: „Nehmt niemals, niemals, Bonbons von französischen Soldaten.“ Ich habe das auch einmal in einem Artikel verarbeitet.

Ein, zwei Monate später hatte ich eine Begegnung mit einem traditionellen tunesischen Konditor, auf arabisch "Ftayri". Ich war 6 Jahre alt, es war Ramadan. Und im Ramadan gaben sie, wie es damals üblich war, alles, was sie während der Nacht nicht verkaufen konnten, am nächsten Tag den Kindern, da sie frische Sachen vorbereiten wollten.

Auf dem Weg zur Schule rief mich dieser Typ dann und sagte: „Komm her.“ Ich ging hin und er sagte: „Da hast du ein paar süße Sachen zum Essen.“ Ich sagte: „Nein, ich halte mich an den Ramadan.“. Er war ganz erstaunt und sagte: „Also, wenn das so ist, wenn du von der Schule zurück bist, kriegst du einen großen Kuchen.“ Von der Schule zurück wollte ich da gar nicht erst hin, aber er hatte schon Ausschau nach mir gehalten und rief mich wieder und meinte: „Weil du den Ramadan einhältst, verdienst du diesen Kuchen.“
Es war das zweite Mal in meinem Leben, als ich ein Kind war, wo dieser Gegensatz zu spüren war: einmal die französischen Soldaten, von denen man niemals ein Bonbon annehmen würde und dieser Mann, der mir etwas geben wollte, weil ich etwas tat, was seiner Meinung nach gut für mich war. Es war wie in der Koranschule und der französischen Volksschule.

Was war das Ergebnis? Wir kamen nach Tunis zurück und in der Schule weigerte ich mich Französisch zu lernen, ich weigerte mich einfach, ich weiß nicht warum. Sie holten meine Eltern und sagten: „Sie will nicht Französisch lernen. Wir haben ein Problem mit ihr, sie ist überall gut, aber in Französisch nicht, sie wird das Jahr wiederholen müssen.“ Meine Eltern hatten Angst, und sie steckten mich in ein Internat, in eine französische Schule. Ich war 7 oder 8 Jahre alt und die meisten Kinder waren Franzosen, Buben wie Mädchen, und vielleicht nur 3, 4 tunesische Mädchen. Ich erinnere mich zu mir selbst gesagt zu haben: „Das ist jetzt sehr schlimm, ich habe keine Wahl, ich muss Französisch lernen, ich habe nicht einmal tunesische Freunde. Wenn ich jetzt nicht diese Sprache lerne, habe ich wirklich ein Problem und dann lernte ich Französisch, aber wie?“

Nun passierte wieder eines dieser eigenartigen Dinge im Leben. Es gab eine Person in diesem Internat, die auf die Kinder während der Nacht aufpasste. Es war eine tunesische Studentin, ein Mädchen, die Professorin werden wollte. Sie arbeitete während der Nacht an dieser Schule.
Am Wochenende, wenn sie bei ihren Eltern war, nahm sie von dort tunesisches Essen mit. Und während alle Mädchen schliefen rief sie uns und gab uns zu essen, was sie von ihrer Familie mitgebracht hatte. Dabei erzählte sie uns Geschichten, zauberhafte Geschichten, wirklich zauberhafte, traditionelle Märchen, Geschichten aus dem Koran. Wir waren verzaubert. Das Essen, das sie mitbrachte, obwohl wir zu Hause besseres hatten, war einfach und wir genossen es.

Ich denke, man sieht daran, wie sich die Kolonialzeit auswirkte und ich lernte französisch, aber in Verbindung mit etwas mir Vertrautem.
Ja, da hat es angefangen. Ich war wirklich sehr, sehr klein, jung, als ich anfing mich für das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen zu interessieren.

Wie haben Sie Ihre Teenagerzeit nach der Unabhängigkeit Tunesiens von der französischen Kolonialherrschaft wahrgenommen?

Als ich ein Teenager war hat sich eine neue tunesische Identität gebildet. Man propagierte den unabhängigen Staat und solche Dinge.
Ich erinnere mich auch, sehr aufmerksam gewesen zu sein auf alle Programme, die im Radio liefen, wo es um Kindererziehung ging, die moderne Frau, die neue Familie usw. Für mich war es damals völlig klar, wie es hätte gehen können, dass es ums Reden ging. Und ich hatte deutlich die traditionelle tunesische Familie vor mir, wie die bestimmende Schwiegermutter. Ich sah, wie sich die Rolle der Frau langsam änderte und diesen großen Unterschied zwischen den traditionellen Müttern und den jungen Frauen, die nach Unabhängigkeit strebten, ein eigenes Appartement wollten, weit weg von der Schwiegermutter. Modern zu sein, hieß damals, ohne die Familie der Schwiegermutter zu wohnen. Ich habe damals gesehen, wie sich das entwickelte und verstanden, wo die Problematik dieser starken Strömungen lag und spürte mein Ringen um Klarheit.
Was ich dann in den Radioprogrammen hörte, was sie den Erwachsenen rieten, das waren die Diskussionen der Sechziger Jahre, die dann Gegenstand der Forschung in den Siebzigern waren.
Und ich war – sozusagen - in diese Entwicklung der Forschungen in den Siebzigern hineingeboren, ich war damals 20.
Es gab damals zwei Bücher: Eines von einer Algerierin, die auch solche Radiosendungen in Algerien machte, Fadhila M'Rabet. Die hatten die gleichen Probleme wie wir in Tunesien, sie verwendete all die Briefe, die an die Radiosender gingen und hat sie analysiert. Und ein Buch von Carmel Camilleri, der ein Buch über die Jugend und die Entwicklungen in Tunesien schrieb. Wie gesagt, was ich in den Sechzigern hörte war dann Objekt von wissenschaftlichen Untersuchungen in den Siebzigern.

Sie waren 19 Jahre alt als nach Frankreich gingen? Und da war gleich klar, dass Sie Psychologie studieren?

Ja, sofort. Ich sagte zu meinem Vater: „Ich will nach Frankreich.“ Er war nicht begeistert und sagte: „Bleib, such dir ein Studium hier“. Ich sagte: „Wenn ich nicht nach Frankreich gehe, werde ich von zu Hause ausziehen und hier mit Studenten leben.“ Meine Mutter hatte ein französisches Magazin und ich wusste, wie die Studenten in Frankreich lebten und wie sie sich finanziell über Wasser hielten. So habe ich mir in den Kopf gesetzt nach Frankreich zu gehen, um unabhängig zu werden.

War es damals nicht sehr teuer nach Frankreich zu gehen?

Es war so und meine Familie wollte für mich zahlen, aber ich habe ihnen nichts erzählt bis kurz, bevor ich weg ging. Mein Vater war ja immer noch dagegen und ich war das erste und einzige Mädchen. Er weinte und meine Mutter auch, aber nichts desto trotz, ich ging. Ich sagte auch nicht, was ich dort machen wollte. Ich wollte nicht noch mehr Probleme.
Ich ging also nach Frankreich, wie alle Studenten damals in Begleitung der Familie. Mein Vater blieb bei mir. Er hat mir ein Zimmer gesucht, es auch im Voraus bezahlt. Nach dem ersten Monat hab ich dann mit meiner Vermieterin ausgemacht, dass ich selbst für die Miete aufkomme. Sie hatte es nicht ganz verstanden, aber ich wollte erwachsen sein, und habe gesagt: „Nehmen Sie das Geld oder ich gehe!“ Sie hat akzeptiert.

Was haben Sie dann gearbeitet?

Ich habe wie all die anderen Studenten gearbeitet, alles, alles, was Studenten tun konnten: Bücher in Büchergeschäften verkaufen, alles. Es war gar nicht so wichtig für mich, ich wollte unabhängig sein, meine Eltern waren natürlich traurig aber…Es war nicht immer einfach, aber es hat mir geholfen herauszufinden, was ich will.

Und das Studium?

Ich habe mich dann für klinische Psychologie entschieden und Ethnologie und Anthropologie und Religion, alles sehr kritisch.
Ich hatte viele interessante, großartige Professoren. Es waren möglicherweise die Besten. Sie wissen, es war eine wichtige Zeit damals, 1968 in Paris und die Psychoanalyse war an ihrem Höhepunkt. Ich habe alle Meetings und Konferenzen verfolgt, viel gelesen, versuchte überall dabei zu sein; alles, was ich neben dem Arbeiten tun konnte, es war nicht immer leicht, aber es war eine großartige Zeit.
Die Anthropologie habe ich als Vollstudium gemacht, mein Vater war absolut dagegen, weil das absolut nichts für Frauen sei. Er hat einen Brief an meinen ersten Mann geschrieben, er war ja schon nicht mit dem Psychologiestudium einverstanden und er wusste, Ethnologie, Anthropologie hatten etwas mit Reisen zu tun. Da es nicht erlaubt war alleine zu reisen, konnte er sich nicht vorstellen, wie das mit diesem Studium gehen könnte. Aber ich blieb dabei und Jahre später schenkte er mir dann Bücher von Freud, ja. So ist die Familie. Man muss nur wissen was man will, auch wenn man einige Hoffnungen enttäuscht.

Sie waren damals schon verheiratet?

Ja. Ich habe meinen ersten Mann geheiratet, nach zwei Jahren in Paris. Es war meine Wahl. Ich habe meinen Eltern einen Brief geschrieben und gesagt, nun bin ich verheiratet. Wir kannten uns von der Schule und ich traf ihn wieder in Paris. Ich denke, damals in Tunesien wollten wir einfach alles erforschen und erfahren. E war eine Zeit der Hoffnung in Tunesien, eine Zeit mit vielen neuen Dinge. Die Heirat, ja vielleicht kann man es so erklären, ich stamme aus einer traditionellen Familie in einer modernen Zeit. Ich war mit beidem vertraut, ich wollte beides, ich war damit ein Kind der Zeit.

Wie war das mit Ihren Studien?

In dem Department, wo ich studierte, gab es einige Möglichkeiten in Psychologie abzuschließen. Ich suchte mir die klinische Psychologie aus, damals von Laplanche geleitet. Sie wissen, der das Lexikon schrieb mit Pontalis, dann ging es zum Praktikum und dann kam Lacan ins Spiel. Dieser Kreis um ihn interessierte mich, dann Winnicott, Melanie Klein, die englische Schule. Damals wurde mir klar, dass es bei mir in diese Richtung gehen würde.
Es war damals ja der Höhepunkt der Antipsychiatriebewegung. Dann hat mich Maud Mannoni, mit der ich die letzen Jahre gearbeitet habe, angefangen zu interessieren, die Psychoanalyse in Zusammenhang mit arabischen Frauen, dem Verrückten, der Krankheit.

Hat Ihnen damals Fanon etwas gesagt, die Auseinandersetzung zwischen Octave Mannoni und Frantz Fanon, war das damals noch ein Thema auf der Uni?

Ja, was er sagte über die Kolonisation und der Streit zwischen Maud Mannonis Mann, Octave Mannoni und Frantz Fanon, sicherlich waren das damals auch Themen. Aber ich habe unterschieden, was sie machte und was ihr Mann vertrat, ich konnte mit ihr arbeiten und mit Fanon verbunden sein, und sie schätzen. Wo ich herkam mit meiner Geschichte und der Geschichte meines Landes, war Fanons Sichtweise logisch für mich, seine Sicht der Geschichte, der Ereignisse, der Probleme. Er ist in seinem Denken sehr radikal gewesen, über den denkbaren Punkt hinausgegangen, was auch aus seiner Geschichte erklärbar ist.
Für mich war Fanon wichtig, denn für mich war klar ich konnte in Frankreich bleiben, hatte einen guten Job, hatte Freunde, verdiente, lehrte an der Uni, aber ich hatte das Gefühl etwas in meinem Land verändern zu wollen.

Sind Sie darum nach Tunesien zurückgekehrt?

Ja. Veränderung zu bewirken war der wirkliche Grund, denn Maud Mannoni wollte nicht, dass ich gehe. Sie sagte: „Du hast einen guten Job hier“, aber ich wollte zurück, so kam ich zurück.
Und dann wissen Sie, man hat nicht viele Möglichkeiten, wenn man zurückkommt, nachdem was ich in Paris gemacht hatte. Ja, es gab noch einen anderen Grund warum ich nicht in Frankreich bleiben wollte. Ich war im Begriff zum Sprachrohr für die Immigranten zu werden, das wäre wieder ein Ghetto für mich gewesen, ich wollte im Beruf stehen. Ich arbeitete ja, ich machte ein Projekt über maghrebinische Frauen in Paris, und man bat mich, darüber zu sprechen und an Konferenzen teilzunehmen. Maud Mannoni hatte ein Forschungszentrum, wo sie mit Kindern arbeitete, und sie unterrichtete an der Universität, aber es war nicht das, was ich wollte.
Zu dieser Zeit aus dem Maghreb zu sein und in Frankreich zu leben war das Schlimmste, was einem passieren konnte. Ich denke, diese Zeit war der schlimmste Punkt in der Geschichte der Immigration in Frankreich. Die Leute aus dem Maghreb wurden wirklich schlecht behandelt und massiv ausgebeutet. Ich habe mich in dieses Thema hineinbegeben, aber hatte bald den Eindruck, dort als Sprecherin einer Gruppe missbraucht zu werden, ich wollte das nicht. Na ja, wie gesagt man hat hier nicht viele Möglichkeiten.

Wann kehrten Sie genau zurück?

Ich kehrte 1979 zurück. Ich fragte mich, was ich hier tun könnte, ich wollte immer im klinischen Bereich arbeiten, ich wollte auch nicht an die Universität zu dieser Zeit. Das war nicht meine Priorität, aber um einen Job zu haben, um ein wenig zu verdienen, ist es gut ein Naheverhältnis zur Universität zu haben, so nahm ich einen Job am Universitätsspital an. Ich tat und machte und leistete viel und ich bereue es nicht, es war sehr schwierig, viel Arbeit, aber es war ein guter Zeitpunkt. Sie wissen ja, die Unabhängigkeit in Tunesien war eine große Sache, aber in der täglichen Arbeit im Hospital konnte man mit eigenen Augen die Missstände des Systems sehen, man konnte sehen, wo der Staat versagte. Ausgrenzung, Armut, Macht, die dunkle Seite der Macht, man bekommt ein genaues Bild der Misserfolge des Staates nach der Unabhängigkeit und ich bereue diese Zeit nicht. Ich war überarbeitet, ich war allein, ich war die einzige Psychologin, zu dieser Zeit.

Ich arbeitete mit den Patienten, mit den Familien, mit den Ärzten, mit den Krankenschwestern, kämpfte mit der Spitalsstruktur, ich arbeitete an einer Mutterkindberatungsstelle, in einer kleinen Einheit, die ans Krankenhaus angegliedert war, ähnlich wie die PMI (Protection Maternelle et Infantile) in Frankreich, man kann sich dort von Ärzten und Hebammen beraten lassen.
Ich kam in all die armen Stadtteile, entsetzlich arme Bezirke. Ich hatte die Möglichkeiten mit sehr netten Leuten zu arbeiten, die an das glaubten, was ich tat. Die Aufbauphase war eine phantastische Zeit, wir hatten Teamsitzungen mit allen Ärzten und allen Mitgliedern des Teams, wir übten uns in demokratischen Entscheidungsfindungen, versuchten die Probleme, die sich ergaben, gemeinsam zu analysieren, diskutierten wie wir diesen Leuten helfen konnten, es war ein großartige Zeit des Umbruchs. Es gab zum Beispiel ein Häufung von Müttern mit Kindern mit Durchfallserkrankungen und Untergewicht, wir fassten sie in Gruppen zusammen, es gab therapieresistente Fälle, die trotz aller Medikation der Ärzte auf nichts mehr ansprachen.

So gaben wir den Müttern und Kindern durch diese Gruppen Raum, um miteinander zu sprechen und machten Angebote, der Ernährungsspezialist stellte sich zur Verfügung, aber nur dann, wenn die Gruppe intern beschloss, ihn als Berater heranzuziehen, es funktionierte. Die Symptome verschwanden bei den Kindern der Mütter, die an diesen Gruppen teilnahmen, weil das Symptom der Kinder ein Teil des Dialogs zwischen Mutter und Kind war, und als die Mutter die Möglichkeit hatte zu sprechen, war das Symptom der Kinder nicht mehr notwendig. Die Mütter versuchten sich wieder als Frauen zu organisieren, da sie sahen, dass es half zu reden und sich zu unterstützen.

Wir haben viele Gruppen gemacht, wo es um Verhütung ging. Zu dieser Zeit war das hier etwas Neues, und die Ärzte hatten nicht den Zugang zu den Frauen, also organisierte ich eine Gruppe. Ich sagte: „Fragt mich einfach, ich werde versuchen eure Fragen zu beantworten. Warum Verhütung, was gewinnen wir mit Verhütung, wie benützt man die Sachen, mit welchem Ziel, solche Fragen eben.“ Die Frauen fragten mich persönlich: „Was benützen Sie selbst, benützen Sie dies oder das?“ Ich antwortete aus meiner persönlichen Erfahrung heraus. Für mich war es wichtig, den Frauen eine Möglichkeit der Wahl zu geben, auch bei den Themen Geburt und Beziehung zwischen Mutter und Kind. Dies war ja damals die Sache der Hebammen, die hauptsächlich im Auftrag der Ärzte arbeiteten und die Aufgabe hatten den Druck von den Ärzten nehmen, und sie daher auch selten um Rat fragten. Die Hebammen nahmen zu dieser Zeit in Tunesien eine wichtige Stellung ein, es waren zu wenige Ärzte da und es war billiger für den Staat Hebammen auszubilden als Ärzte. 2 Jahre  Hebammenausbildung – später waren es dann 3 Jahre - gegen ein ganzes Studium von 7 Jahren plus 4 Jahre Spezialausbildung zum Gynäkologen, es war einfacher und ökonomischer für den Staat. So gab es immer mehr und mehr Hebammen und sie wurden sie zu den Parolenträgerinnen des neuen tunesischen Staates. Und der Staat propagierte die Verhütung – zu viele Kinder - und die Hebammen halfen dem Staat auf ökonomische Weise sein Programm zu erfüllen und so wurden die Hebammen das Gewissen des Staates und sie gaben den Druck an die Frauen weiter und das konnte nicht funktionieren. Ich vertrat damals in den Meetings, dass es schlecht sei, die Frauen so zu manipulieren, das war ein neuer Kolonialismus, deshalb machte ich Trainings mit den Hebammen.

Meine Arbeit war immer ein Kampf gegen die Strukturen, aber man muss den Kampf aufnehmen und ich konnte die Zustände nicht ignorieren. Einmal zeigte ich einer Gruppe Frauen einen Film über eine schmerzlose Geburt, um ihnen zu helfen sich gute Bedingungen zu schaffen ohne schlecht behandelt zu werden und um zur Diskussion zu bringen, dass der Mann hier nicht ausgeschlossen sein muss, er helfen kann. Dies ist etwas Undenkbares in unserem System hier, es ist mir dann auch nie gelungen außer bei einer Hausgeburt in geschütztem Rahmen.

Ich zeigte also diesen Frauen den Film, ein Mann, ein Kollege – jetzt ein hoher tunesischer Minister - hatte sein Zimmer am Ende des Ganges und er machte seine Tür auf, um zuzuhören und zuzuschauen. Die Frauen sagten nach dem Film: „Gut wir kennen das, zeigen Sie das doch den Ärzten, die keine Ahnung haben und uns schlecht behandeln!“ Die wussten genau, um was es ging. Ich habe das später auch gemacht, mit sehr positiven Rückmeldungen. Nachdem die Gruppe weg war, kam dieser Kollege und sagte: „Lilia, wissen Sie, was Sie da tun? Sie zeigen den Frauen etwas Schlechtes, etwas Schlechtes über die Sexualität.“ Man sah in diesem Film auch einen Mann , der gerührt war bei der Geburt seines Kindes und die Frau nach der Geburt zärtlich küsste. Ich sagte: „Was? Ich? Wissen Sie“, sagte ich, „diese Frauen können mir mehr über Sexualität beibringen, als ich weiß, die wissen viel mehr als ich“.
So war es. Man sagte mir einerseits, ich machte etwas Wichtiges, zur gleichen Zeit entwertete man subtil oder offen meine Arbeit. So ging es die ganzen Achtziger Jahre, ja ich kenne das Spiel mit der Macht.
1996, 1997, ging ich dann an die Universität um Psychologie zu unterrichten, nachdem mich eine Freundin dazu ermuntert hatte.
(Lilia bemerkt, dass wir hier in der Hotellobby von Polizisten in Zivil umgeben sind, die uns zuhören)

Wie steht es mit der Interkulturalität in Tunesien?

Italiener Franzosen, Juden, viele unterschiedliche Gruppen, in den Achtziger Jahren gab es viele Zuwanderungen aber die communities sind sehr klein und treten nicht wirklich in Erscheinung, in den Achtziger Jahren haben wir einmal einen Film über eine russische Frau gemacht, die sich in Bizerte niedergelassen hatte. Über die jüdische Gemeinde in Tunesien gab es einige Konferenzen und Publikationen, ebenso über die italienische Kunst und Architektur in Tunesien.

Die Psychoanalyse im Maghreb, welche Rolle spielen die Frauen darin?

Drei Frauen. Die ägyptische, Nawal ElSaadawi, eine Psychiaterin, ist eine sehr bekannte, sie war im Gefängnis, im Exil und was weiß ich noch alles, jetzt ist sie 70. Sie hat gegen den Staat gesprochen, ganz offen. Als sie ihren Doktor gemacht hat war sie im öffentlichen Dienst tätig und sie nahm einen Fall einer Frau an, die von ihrem Mann vergewaltigt worden war. Ein ganz komplizierter Fall eben, der Chef ihrer Institution war ein Mann. Gut, also ich muss doch über den Fall sprechen: Diese Frau wurde sehr jung, mit 12 Jahren, mit einem wesentlich älteren Mann verheiratet, und jedes Mal, wenn sie sich auf den Boden begab um ihr Gebet zu sprechen, wurde sie von ihrem Mann vergewaltigt. Sie wurde verrückt, weil sie dachte, es war Gott, weil es während des Gebets passierte.

Hatte der Mann denn nicht Angst hier ein religiöses Tabu zu brechen?

Nein, er war wesentlich älter und hat die Situation manipuliert. Sie ist einfach verrückt geworden. Die Mutter des Mädchens wusste, es gab eine neue Doktorin und kam und fragte um Hilfe. Sie wurde aufgenommen. Nawal nahm sie dann bei sich zu Hause auf, zusammen mit ihrer Betreuerin und das Mädchen wollte nicht mehr zum Mann zurück. Dem Chef der Institution war das nicht recht und er schrieb einen Brief ans Ministerium, das Gesundheitsministerium, an den Präsidenten und die Partei, worin stand, dass Nawal etwas tut, das gegen die Religion verstößt. Sie verlor ihre Stelle und ging weg, das war in den Fünfziger-, Sechziger-Jahren. Sie schrieb dann viel über die Situation der Frauen.
Dieser Fall ist sehr wichtig, weil er die Doppelzüngigkeit des Staates zeigt, der die Rechte des Mannes unterstützt, dem somit das Recht zugesprochen wurde, seine Frau so zu behandeln.
Die marokkanische Frau, Rita El-Khayat, Psychiaterin arbeitete in einem Hospital, wo Männer und Frauen in getrennten Abteilungen untergebracht waren. Sie versuchte dort ein paar Dinge zu ändern und sie wurde gefeuert, sie war so alt wie ich. Die dritte Frau, Néjia Zemni, eine Professorin, eine Tunesierin im Lycee, hat Philosophie unterrichtet. Plötzlich, in den Siebzigern, entschied der Staat, Philosophie sollte in Arabisch unterrichtet werden. Sie konnte das nicht, weil sie in Frankreich ausgebildet worden war.
Ihre Freundin, die erste tunesische Psychiaterin, Samia Attia, sie ist nicht mehr hier, sie ist jetzt in Kanada verheiratet, sie standen sich sehr nah, sagte: „Komm zu mir auf die Klinik und übernimm die Ergotherapie mit meinen Patienten.“ Sie tat das und hatte Patienten, aber bekam dort Probleme mit den Ärzten, weil man ihr Studium nicht achtete. Wenn du kein Psychiater bist, bist du nichts für die. In Paris war die Philosophie geachtet und sie ist besonders in den lacanianischen Schulen in den Diskussionen sehr wichtig. Dort wurden Interviews auf der Basis der Phänomenologie diskutiert, hier ist diese Art der Auseinandersetzung unmöglich.

Und was sagen diese drei Frauen?

(wir witzeln noch über unsere heimlichen Zuhörer, die uns zwischenzeitlich ins Restaurant gefolgt sind und meinen, die Kassetten würden sie mir am Zoll abnehmen, mich endgültig aus dem Land werfen)
Die Psychoanalyse ist das genaue Abbild und die Wiederholung der patriarchalen Situation. Die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Unterdrückung, wenn sie aufeinander treffen, ist exakt die Reproduktion des patriarchalen Systems unter dem sie arbeiteten. Das ist es, was hier über die Psychoanalyse gesagt wird von sehr gebildeten Frauen. Die eine hat sich völlig abgewandt, sie nennt sich nun Anthropologin und nicht mehr Psychiaterin. Sie hatte einmal eine Nähe zur Psychoanalyse, aber sie sagt, es ist nur ein anderer Weg, Frauen zu bevormunden, nach dem Modell der Dominanz.

Wie ist das mit Ihren Büchern in Tunesien einen Verleger zu finden, ist es schwierig zu veröffentlichen?

Nicht sehr leicht, aber ich habe Glück.

Erzählen Sie mir doch von Ihrem neuen Buch.

In meinem Buch gehe ich drei Schriftstellerinnen nach, die in 3 verschiedenen Zeitabschnitten, den Siebzigern, Achtzigern und Neunzigern im Senegal gelebt und geschrieben haben. Aminata Sow Fall, Ken Bugul und Mame Younousse Dieng.

Aminata Sow Fall zum Beispiel sagt, und das ist wirklich interessant, weil es nahe an der, die die Polygamie akzeptieren, sind eigentlich Fetischistinnen.
Was denken denn die Tunesier über die Leute in Schwarzafrika?
Ich denke, wir haben ebenso ein Nord-Süd-Gefälle und sind sehr am Norden und immer noch an Frankreich orientiert. Ich sehe mich als eine Frau aus dem Süden und wenn ich mir diese 3 senegalesischen Schriftstellerinnen so anschaue, jede für ihre Epoche, kann man sehen, was die tunesischen Frauen in den letzten 50 Jahren vermieden haben, weil sie völlig unterschiedlich von den tunesischen Schriftstellerinnen sind. Das ist jetzt meine Interpretation, hier sind die Schriftstellerinnen zu nahe an der Macht, nicht authentisch genug.

Wie sind Sie hier in die psychoanalytische Society eingebunden?

Nicht wirklich, gar nicht. Meine Unterstützung, meinen Rückhalt bekomme ich von meinen Freunden, aber das ist weiter weg von der Psychoanalyse. Hier kann man wirklich nichts machen ohne Politik, man kann sich nicht bewegen ohne Politik, nicht einmal so machen (schnippt durch die Luft) und dann noch zu sagen: „Das ist meine Arbeit.“ Es ist schwierig nicht in einer einflussreichen Gruppe zu sein, mit ihrem Schutz. Aber wenn man mit der Macht kooperieren will oder mehr Macht will, muss man das tun.

In meinem Versuch unabhängiger zu sein, bekomme ich viel Zuwendung, weil die Menschen das Authentische merken, das berührt die Leute. Ich vergleiche es mit Frauen aus Europa: Luce Irigaray wurde von Lacan rausgeschmissen, Francoise Dolto nicht und auch Maud Mannoni nicht, also wir können sehen, was den Unterschied ausmacht, warum die einen schon und die anderen nicht. Es ist eine Kunst sich eine Position zu erstreiten und authentisch zu bleiben.

Das ist es auch was ich meinen Studentinnen zeigen möchte, wie es in den verschiedenen Ländern zugeht und nicht nur, dass es für die arabischen Frauen schwierig ist. Ich möchte ihnen einen Einblick geben, wie es sein könnte, wenn man entlassen wird, an die Öffentlichkeit zu gehen, was das bedeuten kann, autonom sein zu wollen, hier und woanders.

Was hat Sie an Lacan so interessiert?

Mir war damals schon sehr bewusst, woher ich kam und damit die ganze Kolonisationsgeschichte, die ich auch in mir trug. Gut, er war sehr französisch, aber mir hat sein Blick auf die Kultur gefallen und sein Blick auf das Unbewusste, der sehr unterschiedlich war von dem, was ich kannte zur Zeit, als ich in Paris war. Seine philosophische Perspektive, seine Nähe zu Platon und Heidegger waren für mich nicht weit weg von den arabischen Denkern. Man muss ihn in seiner Zeit sehen, Lacan hat sich mit den Philosophen befasst und er hat etwas daraus gelernt und Freud wieder gelesen und ihn neu interpretiert, das hat mich interessiert. Sicher, er war Franzose, aber war nicht nur das, in der Art seines Denkens, wo er sich befand, war er für mich kein Fremder.

Haben Sie gewusst, dass eine seiner Töchter , Sybille Lacan, ein Buch über ihn geschrieben hat?

Ja, die hatten eine ziemlich schlechte Beziehung die beiden, ja ich hab ´s gelesen. Na ja, wäre ich zu dieser Zeit in Paris gewesen, wer weiß, ich wäre auch fasziniert gewesen, aber was ist dann Ihre Psychoanalyse?
Ich glaube, es ist wichtig - heute weit wichtiger als gestern - den Weg weiterzuverfolgen und die Psychoanalyse mit den Fakten der Anthropologie zu verbinden. Für mich ist die Psychoanalyse etwas, womit ich interpretieren kann. Aus der Anthropologie habe ich die Kultur, die Fakten. Aber wo komme ich mit nur einem Konzept hin? In meinen Kursen mit den StudentInnen und in der Arbeit mit PatientInnen muss ich reinterpretieren und die Konzepte verändern können, das ist wichtig, aber natürlich sehr aufwendig. Meinen Studenten zum Beispiel wird oft Literatur westlicher Autoren gegeben, einfach ohne Erklärung. Was ich in meinen Kursen an der Universität versuche, ist immer - immer - eine Rückbindung an die Kultur zu machen. Wenn ich mit den StudentInnen über Alkoholismus arbeite, gehe ich von Tunesien aus. Wie viele Alkoholiker haben wir hier, welche Arten davon, welche Formen der Forschung betreiben wir…
Dann gehen wir gemeinsam durch Beispiele aus der Praxis, dann vergleichen wir das mit Autoren aus dem Westen und dann werden sie neugierig und fragen und schauen sich um und beobachten und finden diese Dinge ganz nahe, in ihrem Umfeld.
Depression zum Beispiel, sie werden ihnen meist in Zahlen präsentiert. Wir haben keine wirkliche Forschung zu diesem Thema, also benutze ich meine Fälle, Fälle von Kollegen, Literatur von verschiedenen Autoren, und wir finden gemeinsam zum Beispiel heraus, dass in diesem Land nie die Genderfrage gestellt wird, dass viel mehr Frauen hier an Depressionen erkranken als Männer, und wir es mit Krankheitskonzepten zu tun haben, die leer sind. Es ist unwahrscheinlich viel Arbeit, aber es hat Effekte auf die Studenten, auch wenn es ungewohnt ist für sie.

Lilia Labidi hat immer wieder durch ihre Aktionen gemeinsam mit ihren Studentinnen von sich reden gemacht, wie dieses Happening mit dem Titel M'kartssa., das am 6. und 7. März 2000, bei dem Symposium „das Bild, Bilder und Gesellschaft“ im "Maison de la Culture Maghrébine Ibn Khaldoun" in Tunis stattfand. Die in Zeitungen eingewickelten Frauen meinen eine deutliche Kritik an den Medien, der Politik »es ist nicht die Frau selbst, die spricht sondern andere, die für sie sprechen, die Wahrheit wird dadurch travestiert.«
Die tunesischen Zeitungen haben erst Monate danach darauf reagiert, eine Verzögerung im Umgang mit Subversivität, die in Tunesien mit dem Zwiespalt des offiziell hochgehaltenen Bildes eines neuen modernen tunesischen Staates und den dahinterstehenden machtvollen, kontrollierenden, politischen Kräften zu tun haben kann.

Auch dieses Interview hat unter Beobachtung ziviler Polizisten stattgefunden.

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